Du wälzt dich unruhig in deinem Bett hin und her. Die Worte, die du gelesen hast, die Zeichnungen, die du gesehen hast. Sie lassen dich nicht los. Das sonderbare Verhalten deiner Mutter, nachdem sie dich oben auf dem Dachboden gefunden hatte.
Was hatte das alles zu bedeuten?
Fasziniert und erschrocken zugleich von diesen Eindrücken nehmen deine Träume die Gedanken auf und verwandeln sie in surreale Szenen. Harpyien-artige Geschöpfe, halb Frau, halb Krähe, die um einen Galgenbaum herumfliegen. Leuchtende Augen in der Dunkelheit, die jeden deiner Schritte verfolgen. Uniformierte Gestalten, die mit Armbrüsten auf dich zielen.
Deine Füße tragen dich wie von selbst einen Weg entlang, weiter weg von dem Baum, den Uniformierten, tiefer in die Dunkelheit des Waldes. Nur die Augen verfolgen dich weiter. Zu wem auch immer sie gehören, sie scheinen parallel zu dir zu laufen. Wildhunde? Oder… Wölfe? Nach all den Eindrücken von davor hat dieser Gedanke fast etwas Tröstliches.
Als du an eine Lichtung kommst, verlangsamst du deinen Schritt. Vor dir liegt, umrahmt von Bäumen, ein See. Der Mond spiegelt sich in seiner glatten Oberfläche.
Natürlich. Du hättest wissen müssen, dass du hierher kommen würdest. Und doch löst der Anblick eine Gänsehaut bei dir aus, sie kriecht dir vom Nacken über den Rücken in die Arme. Aber du kannst nicht anders, du gehst weiter, näher an das Wasser heran.
Mit der Sicherheit, die man fast nur noch in Träumen hat, weißt du, dass dies der See der Mondgöttin ist. Der Ort ist anders und doch genauso wie du ihn dir vorgestellt hast. Etwas hier lässt dich ruhiger werden.
Du trittst an die Grenze des Wassers. Von hier aus kannst du die andere Seite gerade so sehen. Was wohl dahinter liegt?
Doch dein Blick gleitet wie von selbst hinab zu deiner Spiegelung.
Die Augen einer Wölfin erwidern deinen Blick.
Für einen Moment ist sie wieder da, die Angst, die ihre Krallen in dein Herz schlägt. Sie schnürt dir die Luft ab. Und während du mit dir selbst ringst, siehst du, wie die Wölfin die Zähne fletscht.
»Ruhig, Kind. Hier bist du sicher. Dafür haben wir vor sehr langer Zeit gesorgt.«
Die Stimme ist sanft, beruhigend und voll. Dein Blick schnellt hoch, um ihren Ursprung zu finden.
In der Mitte des Sees ist eine Erscheinung. Du wagst es nicht, sie als Frau zu bezeichnen, nicht einmal als Mensch. Um sie herum spiegelt sich das Mondlicht heller, als wäre er näher ans Wasser gekommen.
Während du sie sprachlos beobachtest, bewegt sich die Gestalt. Ihr Arm macht eine ausladende Bewegung um den See herum, während ihre Stimme sanft zu dir getragen wird.
»Dieser Ort hat bereits zu viel Blut gesehen. Doch ich verspreche dir, heute Nacht soll dir hier kein Schaden geschehen. Darauf hast du mein Wort, Kind.«
Es klingt wahr. Ihre Worte scheinen mehr zu wiegen, als es möglich sein sollte. Doch sie fühlen sich wie eine Decke an, die warm um deine Schultern gelegt wird und du nimmst sie dankbar an.
Jetzt, wo du ruhiger wirst, bemerkst du, dass du nicht mehr allein am See stehst. Dein Blick geht das Ufer entlang. Deine Mutter und deine Schwester stehen neben dir. Neben ihnen wiederum zahllose weitere Frauen. Und auf der anderen Seite, fast verborgen durch die Gestalt in der Mitte des Sees, ein großer, weißer Wolf.
Statt Furcht spürst du Faszination und dein Blick gleitet die Reihe zurück. Hättest du heute nicht erst die alten Familienporträts gesehen, hättest du sie wahrscheinlich nicht erkannt. Desto weiter weg die Frauen von dir sind, desto schwerer wird es, überhaupt noch ihr Gesicht zu sehen. Und doch, du bist dir sicher. Es muss sich um die Reihe deiner weiblichen Ahnen handeln.
Noch etwas fällt dir auf. Im Wasser vor ihnen ist nicht ein einziges Mal ihre Spiegelung zu sehen. Stattdessen siehst du die Reflexion von Wölfen.
Dein Blick wandert zurück zu deiner eigenen Reflexion im Wasser und der Wolf schaut dich ruhig an.
Es dauert einen Moment, bis du deine Stimme wieder gefunden hast. Schließlich schaust du auf, zu der Gestalt in der Mitte des Sees. Zögerlich bringst du deine Frage hervor.
»Heißt das, wir sind alle verflucht?“
»Verflucht?« Ein Lachen erklingt, wie warmer Sommerregen. Schließlich kommt die Gestalt näher, schön und ungreifbar, wie Mondlicht.
»Aber nein, mein Kind. Ihr seid gesegnet.«